Geschichte

Jubiläumsansprache zum 50-Jahr-Jubiläum

von Prof. Dr. H. Huber v/o Glimm

 

Verehrte Damen, Verehrte Freunde und Gäste, Liebe Industrianer,

 

Um das Jubiläum unserer Schülerverbindung festlich zu begehen, fanden wir uns gestern und heute in der Stadt und an der Stätte unserer Jugend, unseres Erlebens, Wachsens und Reifens, der ersten Begegnung mit den Wissenschaften und der Bildung des menschlichen Geistes ein. Aus fünfzig Jahrgängen stammen wir: Wie bei den Weinen gibt es gute unter den alten, mittleren und jungen Jahrgängen. Wir sind zu viele, als dass wir alle in diesen kurzen Stunden miteinander ins Gespräch kommen, einander alle kennen lernen könnten, wie wir es eigentlich wünschten. Darum grüsse ich Euch von Herzen im Namen der Urväter und stellvertretend und wechselseitig für Euch alle.

 

Fünfzig Jahre sind gewiss eine lange Zeit im Leben eines erwachsenen Menschen, sie füllen es aus, ja sie machen es aus, bis es zur Neige geht. Doch im Dasein und Wirken eines Verbandes, einer Institution, wo immer wieder neue Glieder kommen und gehen, sind fünfzig Jahre nur ein Abschnitt. Darum beseelt uns schon am Eingang dieser Feierstunde die Hoffnung, dass der lndustria Sangallensis fünfzig weitere glückliche Jahre bis zur Vollendung des vollen Jahrhunderts geschenkt sein werden.

 

Eine Vereinsgeschichte, ehrlich gestanden, ist meist öde und langweilig. Was nicht im Gemüt als Erinnerung lebendig haften blieb, kann durch Sammlung und Niederschrift nicht wieder erweckt werden. Doch die Jüngeren unter Euch möchten wenigstens erfahren, was uns denn 1918/19 bewogen hatte, die lndustria zu errichten und das schon reichhaltige Farbenspektrum an der Kantonsschule noch durch eine weitere Dreiheit zu vermehren. Der Sachverhalt ist einfach, fast nüchtern: Wir schickten uns damals an, die erste Maturaklasse der Handelsschule zu werden, und wir wollten nun auf dieser höheren Stufe auch unsere eigene Verbindung haben. An der Wiege stand demnach so etwas wie ein selbstbewusster Klassenzusammenhalt unter Altersgenossen, gepaart mit guter Freundschaft und Kameradschaft und dem Drang nach dem Farbentragen, aber ohne die Biersitten.

 

Genau genommen waren es zwei Zwillingsvereinigungen, die soeben aus dem gleichen Ei geschlüpft waren und die sich aus Erwägungen der Klugheit zusammentaten: Die Prudentia, wie sie vorübergehend hiess und durchaus keine Versicherungsgesellschaft war, und der KMV, Kantonsschul-Merkantil-Verein, ein garstiger Name!

 

Zwei gütige Gönner unter den Lehrern förderten das Unternehmen, der eine mehr durch Wohlwollen und Ermunterungen, der andere, aus dem «Züribiet», mit Vereinserfahrung und Einsatz, Prof. Dr. Georg Hagmann und Prof. Diethelm Frauenfelder. Wir verliehen ihnen bald darnach die Ehrenmitgliedschaft, denn es gibt in der Schweiz bekanntlich Vereine, die schon mit Ehrenmitgliedern geboren werden.

 

Nun lasse ich die elf Gründer noch einzeln vorbeiziehen, in der alphabetischen Reihenfolge, indem ich über die Jahrzehnte zurückspringe. Doch ich bitte um Nachsicht, schöne Charakterskizzen oder gar Denkmäler wollen mir nicht gelingen, obwohl es eine entscheidende Phase unseres Lebens war. Sicherlich wäre das Wort eines Franzosen für uns zu hoch geschraubt, der da sagte: «Une vie est grande dans la mesure oü eile realise les reves de la vingtieme anne' e.»

 

Werner Bösch V/o Lift kam für die ganze Mittelschulzeit aus dem Vorarlberg herüber. Sein Vater, selber Stickereindustrieller, versprach sich von der Ausbildung des Sohnes im Mittelpunkt des Stickereigebietes einen hohen Gewinn. Lift, bereits ein baumlanger Kerl, schoss noch mehr in die Höhe und rechtfertigte also den studentischen Übernamen. Er verkörperte aufs Reinste österreichische Gemütlichkeit mit einem Zuschuss an sympathischem Schlendrian. In der Verbindung war er rasch zu jedem Streich entflammt, bei den Mädchen beliebter als alle Schweizer zusammen, besonders wenn er herzzerreissend sang: «Auf der Alm (nämlich auf dem Bödele bei Dornbirn) doa gibts koa Sind.» In der Schule half er sich mit entwaffnenden Sprüchen über manche Panne hinweg. Ein Verkehrsunglück losch früh (1936) sein Leben aus.

 

Otto Freitag v/o Stramm, stämmiger Oberländer, stellte oft die gestörte Ordnung mit der gefürchteten Kraft seiner Arme wieder her. Aber in dem Körper des Hünen wohnte eine kindliche Seele. Seine hervorstechendsten Eigenschaften waren wohl Treue und Anhänglichkeit, verlässlich und beinahe grenzenlos. Seit im Kanton St. Gallen regionale Gymnasien geschaffen wurden, habe ich manchmal gedacht, dass sie zwar unentbehrlich sein, aber doch zu einer Verarmung der Kantonsschule der Hauptstadt geführt haben könnten, denn so ein Walenstadter Stramm war unersetzlich und unauswechselbar. Er wandte sich der Landwirtschaft zu, doch in Nordamerika brach die Krise über sein milchwirtschaftliches Grossunternehmen herein und trieb ihn in die Heimat zurück. Dort diente er der Gemeinde als Ammann und dort bewirtschaftet er ein mittleres Gut.

 

Alfred Friedauer v/o Molch, aus der Au im Rheintal: Wie vielfältig waren doch die Beinamen, die wir uns gaben, mit denen wir uns stichelten und neckten! Wie schonungslos und grausam manchmal, mitunter auch wie verständnisvoll, Volltreffer in der Mehrzahl! Einwortgerichte! Dieser Abkömmling aus dem Tierreich und aus dem Gymnasium stiess neben vielen guten Ratschlägen in der Tat auch amphybische Töne aus, und er schaute auch oft mit seinen Augen so in die Welt. Allein ist für junge Leute von 17 und 18 Jahren ein Molch nicht doch wieder ein freundliches Tier und ist nicht sogar der Feuersalamander auch ein Molch? Friedauer amtete später als Sekundarlehrer in seiner rheintalischen Heimat, verliess dann aber seinen Beruf.

 

Walter Künzler v/o Zwiebel pflanzte einen lustigen bis absonderlichen Appenzeller Witz in die Industria. Daneben verfocht er mit missionarischem Eifer fleischlose Kost und Naturheilverfahren mit Kräuterwickeln. Auch hielt er selbst in Eis und Schnee des Januar mit dem Freiluftbad durch. Bei aller Komik war er jedoch ein guter Geselle, aufrichtig und dienstbereit. In spätem Jahren schlug er seinen Wohnsitz in der Lombardei auf; der Krieg zerstörte dort mit Brand- und Sprengbomben seine Wohnung. Indessen erholte er sich wieder, und heute ist er das Gründungsmitglied, das zu unserm Fest vom entferntesten Ort hergereist ist.

 

Alfons Matejka v/o Plum, der federführende und federgewaltige Mann der Industria, Beherrscher vieler Kultursprachen und Anführer in der Pflege und Verbreitung einer künstlichen Einheitssprache: Plum stammte von einem tschechischen Vater und einer schweizerischen Mutter ab; mit seiner hohen Intelligenz und seinem köstlichen Mutterwitz ein schlagender Beweis dafür, dass Aufgeschlossenheit und Blutauffrischung der Schweiz wohlbekommen. Plum war auch das einzige Arbeiterkind unter uns, und er beschäftigte sich auch mit Sozialismus und Sozialreform. Zusammen mit Huck liess er im Kampf gegen jegliches Philistertum auch revolutionäre Knaller los, getreu dem Wort von Goethe, der sich schon dagegen gewandt hatte, dass man die liebe Jugend frühzeitig zahm mache und ihr alle Originalität und Wildheit austreibe. Nun wirkt Plum schon selber als ein Jubilar in einer Uhrenunternehmung in La Chaux-de-Fonds. Die Folgen einer Erkrankung hinderten ihn, zu unserem Fest nach St. Gallen zu reisen; er trug mir aber herzliche Grüsse für bekannt und unbekannt auf.

 

Werner Möhl v/o Mutz gondelte täglich von Rorschach herauf, ein ausgeglichener, treuherziger Gespiele. Er galt als der geborene Schriftführer oder Kassier, das heisst wir luden diese Ämter gerne auf ihn ab. Äussere Erscheinung: eben etwas gutmütig watschelnd wie ein Bär. Viele Jahre seines Lebens verbrachte er in den Vereinigten Staaten, wo seinem Handwerk des Innenarchitekten die Mode der Amerikaner entgegenkam, Tapeten, Wandbemalung und Möbel so rasch wieder abzulegen und zu wechseln, wie ein Kleid. Als er sich genug für den Ruhestand erspart hatte, kehrte er mit ihr in die Heimat seiner Frau zurück und vergrub sich dort, im Appenzellerland.

 

Karl Schölly v/o Huck: Der Name kommt von einer Hauptfigur bei Mark Twain, einem Jungen, der mit seinen phantasievollen Streichen und Abenteuern die blöde Welt der erwachsenen Philister zu erschrecken und durcheinander zu bringen weiss. Doch diese Spanne deines Lebens ist natürlich längst abgeschlossen, lieber Huck. Du warst von Anfang an derjenige unter uns, der sich in der Handelsschule am falschen Ort fühlte, der beruflich unbefriedigt war, dem aber echte Kultur innerstes Bedürfnis bis hinein in die tägliche Lebensgestaltung ist, der sich der deutschen Dichtung auftat und in ihren schönen Werken zu Hause ist wie schier in seinem eigenen Leib, der selber, leider vielfach unerkannt, Löbliches, Gutes, Einmaliges, zu ihr beitrug. Du bist, lieber Huck, der überzeugte Widersacher allen Ungeistes der Gegenwart, Du machst keine billigen Zugeständnisse, übst keinerlei Verrat am Geist und an Deiner Bestimmung. Es ist, als ob Hermann Hesse eigens für Dich und über Dich den Vers geschaffen hätte:

 

Vergangenheit, du bist
Uns Dichtern Trost und Nahrung.
Beschwörung und Bewahrung
Das Amt der Dichter ist.

 

Samuel Streiff v/o Brody war einer der Tätigsten zur Gründungszeit. Überhaupt genoss er den Ruf, ein Bohrer und Grübler von seltener Ausdauer zu sein. Während wir andern davon noch keine Ahnung hatten, erkannte er die Bedeutung der Naturwissenschaften, besonders der Chemie, für die Industrie und holte eilens nach, was der Chemieunterricht an der Schule versäumt hatte. Eine andere Seite Brodys war sein grosser Verbrauch an Couleurbesen. An den Maifahrten und Stiftungsfesten tauchte er fast jedes mal mit einer andern auf - Abwechslung macht das Leben süss. Brody hat im Grunde als Nationalökonom mehrere Berufe nacheinander ausgeübt und in ihnen seinen Mann gestellt, und er hat es auch in der Armee zu zwei dicken Nudeln am Hut gebracht. Die Vorbereitung des Kulturgüterschutzes für einen Ernstfall ist zu einem guten Teil seine, seine bis jetzt letzte Leistung.

 

Norbert Zaruba v/o Fix besuchte die Kantonsschule als Auslandschweizer aus Italien. Doch war auch er Sohn eines tschechischen Vaters und einer schweizerischen Mutter, auch er sicher ein Gewinn für das Schweizertum. Fix war der geborene Schauspieler, der Held für das Goldoni-Lustspiel. Er war freilich schuld, dass ich am Stiftungsfest in den Unterhosen auf der Bühne stand, als er vor dem zweiten Akt den Vorhang zu früh hatte aufziehen lassen. Auch aus der Schulklasse und aus der Verbindung machte seine quecksilberige Lebendigkeit je eine Bühne. Eine beständige Freundschaft verbindet uns seither mit Genua. Durch ein Leiden gebrechlich geworden, musste er sich schweren Herzens versagen, heute nach St. Gallen zu kommen und mitzuhalten.

 

Max Zollinger v/o Waldi: Der Name deutet auf die krummen Beine eines Dackels. Sonst war aber nichts krumm an diesem Mann. Als wohlerzogener Musterschüler vom Land war er begierig nach der Bildung und Ausbildung, die die Schule bot. Sein Aufgabenpensum bewältigte er spielend, und so blieb ihm viel Zeit für Vorträge und andere Produktionen. Seine gutbürgerliche Herkunft stellte er ein einziges Mal bloss, als er sich nämlich bei der Verfolgung einer angebeteten Schauspielerin und beim Überklettern eines Zaunes das Beinkleid zerschliss. Als Generaldirektor einer industriellen Grossunternehmung wanderte und jagte er dann durch die Welt und das Leben. Schönes und Entzückendes wäre, nicht nur bei ihm, über die Familie zu erzählen, doch die Zeit drängt.

 

Hans Huber v/o Glimm war ein schlechter Sänger und noch ein unfähigerer Turner. Das Büblein holte aber durch geschliffene Rede wieder einiges ein. Die Industria liebte er heiss; theoretisch wäre er für sie durchs Feuer gegangen. Die Lehrer teilte er ungnädig und gnädig in Versager und Halbgötter ein. Für die Kantonsschulzeit im ganzen aber bewahrt er noch heute eine grosse Dankbarkeit. Einzelne werden sagen, dass Glimm es von allen Gründungsmitgliedern am weitesten gebracht habe, zum Bundesrichter, zum Universitätsprofessor auf einem berühmten Lehrstuhl, zum Rechtsberater des Bundesrates, zum Festredner am 50. Stiftungsfest der Industria. Allein, wie weit es einer äusserlich gebracht hat, taugt nicht als Massstab.

 

Im Herbst 1919 trat die zweite Schicht an, 16 an der Zahl, Prachtskerle darunter, unverbesserliche Landstreicher unter späteren Versicherungsgeneraldirektoren, liebreizende Geigenspieler an Ständchen und Serenaden unter künftigen schweizerischen Botschaftern. Dieser Nachschub gehörte eigentlich auch zu den Gründern, denn er schuf erst das Vertrauen und sicherte den Fortbestand. Übrigens fanden sich auch Freunde darunter, die schon bei der Gründung* tüchtig mitgeholfen hatten, die aber die Schulordnung noch für ein Jahr in den Wartesaal gewiesen hatte. Und auch die dritte und vierte Runde blieb auf der Höhe.

 

Wir haben auch Fehler begangen, gewiss, so in der Wahl des ersten Farbenkantus:

 

«Ob Fels und Eiche splittern
Wir werden nicht erzittern
Für's Vaterland in Kampf und Tod zu gehen»

 

lautete der Kehrreim, welch' eine Anleihe bei teutonischen, scheinromantischen Kriegsgeschrei!

 

«Blau wie der Himmel die Treu die uns eint,
Golden der Geist, wie der Tag der uns scheint,
Schwarz mahnt uns stets an die Endlichkeit»

 

Wie viel echter und trotz einem verhaltenen Pathos schlichter ist das heutige Bundeslied! Ehre dem Dichter, Max Egli v/o Schwung, der wegen eines qualvollen Leidens nicht unter uns sein kann, Lob auch dem Vertoner Alfred Nef v/o Klang, der heute der unsrige ist.

 

Wenn ich heute ein Aktiver wäre, würde ich wahrscheinlich allerlei Umgestaltungen und Ballastabwürfe beantragen. Vom studentischen Brauchtum wird manches nur noch weitergeschleppt, manches ist für unsere Zeit vollständig fremd und unverständlich geworden und entbehrt auch der Sinnbildlichkeit. Und warum nicht auch Mädchen in die Verbindung aufnehmen? Warum denn nicht? (An dieser Stelle sind Zwischenrufe gestattet.) Freilich wäre der Ausdruck «Füxin» nur schwer, der Ausdruck «Burschin» gar nicht über die Lippen zu bringen. Aber begegnen einem heutzutage auf der Strasse nicht viel weniger anmutige, nämlich männliche «Burschinnen»? Doch ich würde vermutlich überstimmt: Die Farbenbrüder sind in der Mehrheit, die am Hauptsitz unserer Unternehmung den Buben- und Männerbund aufrecht erhalten und die holden Gestalten nur an den Zweigniederlassungen zulassen wollen.

 

Es ist Euch wahrscheinlich auch so ergangen wie mir: Im Laufe der Jahre haben sich die Perspektiven verschoben. Als Jüngling lebte man, unbelastet von Zukunftssorgen, ganz der Gegenwart, und St. Gallen war der Mittelpunkt der Welt, die Kantonsschule und die Verbindung die Mitte der Mitte. Seither hat sich vieles entrückt, und die Sicht ist anders geworden, St. GalIen zu einer Provinzstadt, wenn auch zu einer liebenswerten (übrigens ist auch Zürich eine Provinzstadt).

 

Die Gründer gehörten zu einer seltsamen Generation; ihr bewusstes Leben umspannt den grössten Wandel der Geschichte, der je vor sich ging, in Gesellschaft, Technik, Industrie, Staat und Staatengesellschaft, Politik und Zivilisation. Als Kinder sahen wir in St. Gallen noch die ersten Autos und wie die Gasbeleuchtung in den Strassen durch die Glühbirne ersetzt wurde, wie mühsam die Bodensee-Toggenburg-Bahn gebaut wurde. Auf dem Breifeld bei Winkeln erlebten wir die ersten Flüge. Wir nannten die Flugzeuge buchstäblich von oben herab, nämlich auf dem Schloss Oberberg, «Bodenkröten», weil sie sich nur weniger Meter erhoben.

 

Den wahren und erschütternden Hintergrund bildeten die beiden Kriege und was dazwischen lag: ein Meer von Blut und Wunden, von Hass, Unterdrückung und Zerstörung. 1918, als wir die Industria gründeten, war eben der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen, ohne jede Erlösung und Befreiung, ob zwar wir für die gütige Verschonung der Schweiz Gefühle der Dankbarkeit in uns trugen. 1944, an der 25-Jahr-Feier, hielt Georg Schlegel v/o Codex seine Ansprache mitten im Zweiten Weltkrieg; er musste ernste Töne anschlagen, wenn er nicht oberflächlich scheinen sollte. Ihr Jüngeren dürft es uns nicht verargen: Wir sind etwas gezeichnet von der Epoche, die wir durchlebten, durchwateten, durchkämpften und auch durch litten. Ist die Menschheit doch nur ein Volk in einem Jammertal? Und ist diese Frage heute weniger berechtigt als 1918 und 1944?

 

Darum war die lndustria mit ihrem Freundeskreis auch oft einfach eine Zufluchtstätte, an der man für Stunden und Augenblicke vergessen konnte, ein Hort für die schöneren Seiten des Menschenlebens. Wir wollen nicht entscheiden, wie viel davon Selbsttäuschung war.

 

Unser Jugendbund beruhte und beruht auf Gemeinschaftsbildung durch freiwillige Einordnung, nicht durch Zwang oder Druck. Er gewährleistet auch ein Stück Persönlichkeitsentfaltung an der bedeutsamsten Schwelle des menschlichen Daseins in dieser Welt.

 

In der Industria waren und sind wir sodann ein buntes Gemisch von Schülern und Ehemaligen aller Abteilungen der Kantonsschule, Söhne aus einfacheren und vermöglicheren Familien, Leute vom Land und aus der Stadt, Katholiken und Protestanten, Offiziere und Soldaten, Meister des Sports und der Beine, Meister des Schreibtisches und des Kopfes. In der Verbindung konnte über diese und weitere Unterschiede hinweg ein Geist und eine Gesinnung der Duldsamkeit, des gegenseitigen Verständnisses und der Zuneigung gedeihen.

 

Aber das genügt nicht: Waren wir auch immer stark genug, um, wenn es sein musste, auch gegen den Strom zu schwimmen? Um aus unserm Kreis Erfolgsanbetung zu verbannen und dafür der Kunst und Schönheit und all dem zu huldigen, was allein das Leben lebenswert macht? Die wahren Horizonte unseres Bundes müssen hinter der scheusslichen Wolke aufleuchten, die auf den alltäglichen Strassen liegt, der Wolke von Rauch, Abgasen, Neonlichtern und Schund.

 

Wohl das Schönste aber war doch die Verbindung als Pflanzstätte und Nährboden von herzlicher Freundschaft zu zweien, zu dreien, Freundschaften im kleinen Kreis, auf einer Wunderinsel. Diese wohltuende Erfahrung reicht sicherlich bis zum den allerjüngsten Jahrgängen hinab. Möge es weiter so bleiben.

 

Und nun wollen wir der Gegenwart uns zuwenden und uns freuen. Ich wünsche Euch einen frohen und schönen, unvergesslichen Abend, danke für die mir geschenkte Aufmerksamkeit und schliesse mit dem nächsten Vers des schon angebrochenen Gedichtes von Hermann Hesse:

 

«Verwelktes blüht aufs neue,
Uraltes lächelt jung;
Frommere Erinnerung
Hält ihm in Ehrfurcht Treue.»

 

* Zu diesen Mitgründern aus der ehemaligen Prudentia zählen namentlich Werner Brühlmann v/o Liechtli, Hans Kürschner v/o Fox-Trot und Edwin Stäheli v/o Schlips.


o.u.t.
Ehemaligenverein der Kantons- schule am Burggraben
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